SEA, er wird auch Purtzl genannt, ist so etwas wie ein geheimer Freund vieler Lebewesen. Alle, in denen das Kind lebendig geblieben ist, können ihn sehen und fühlen. Er ist sozusagen ein zeitloser Gutgeist, der die Sprachen der Menschen, Tiere und Pflanzen spricht.
Oft unsichtbar begegnen SEA jene, die es vermögen den Vorhang unserer Welt ein bisschen zur Seite zu schieben. Das kindliche Auge ist es, durch das man Einlass in seine Welt findet.
SEA ist die Seele von Thahotoma, einer fliegenden Insel, wo er mit seinen Freunden, den Kindermenschen, wohnt. Dort, zwischen Himmel und Erde, können ihn alle Geschöpfe in ihren Gedanken und Träumen besuchen.
Purtzl sieht wie ein Wölkchen aus, er sagt immer: »Damit ich nicht nur ein Geist bin, sondern auch gesehen werde und eine beliebige Gestalt annehmen kann.«

Uralt ist das Lebenslied,
viele hab‘s vernommen.
Glück es nur gemeinsam gibt,
die Kraft sie ist gekommen.

Wir sehen die große Welt,
starr, im Schein der trügt,
die Hoffnung unsre Sicht erhellt,
in Harmonie das Leben es blüht.

Der Bäume Stimmen rufen weit,
der Wind, er trägt sie übers Land.
Klang der Seelen, ein neues Kleid,
Wehmut wird verbannt.

Doch eine große Macht,
alles wird von ihr verbunden,
ein Funke fliegt, das Feuer neu entfacht,
das Gute bleibt, der Planet, er wird gesunden!

Die Geschichte beginnt in der Welt der Kindermenschen:

In Thahotoma

Pepe, der Schreiberling, sitzt gerade in der Küche, die sich im ersten Stock von Jacques‘ Haus, gleich hinter dem Denksalon befindet. Sein großer Hunger lässt ihn ein durchaus gut belegtes Brot anrichten. Es ist eine eher dünne Scheibe, die Butter recht dick aufgetragen. Käse und Schinken lassen das Brot darunter fast unsichtbar werden. Pepe schneidet es fein säuberlich in bissgerechte Happen und beginnt, genüsslich vor sich hin zu schmausen.
Als er gerade ein kräftiges Stück verzehrt hat schallen, wie könnte es auch anders sein, die Türglöckchen zu ihm herauf. Eh, logisch, ärgert er sich ein klein wenig. Nachdem sie in Folge aber ein zweites und drittes Mal klingeln, muss er seinen Appetit wohl oder übel noch in Zaum halten.
»Jaja … ich komme schon!«, ruft er beim Verlassen des Denksalons, der direkt an die Küche auf der einen und an die Bibliothek auf der anderen Seite anschließt.
Als er in den Gang hinaustritt, von dem die nach links geschwungene Treppe hinunter zur Eingangshalle führt, hört er schon Tanjas Stimme: »Warte, ich komme zu dir hinauf!«, kreischt sie etwas außer Atem durch die Halle. »Also Pepe … das ist ja richtig unheimlich! Acamis ist wie ausgestorben, das habe ich noch nie erlebt … echt gespenstisch … gab es Derartiges schon?«, sprudelt sie in einem fort.
Pepe beruhigt Tanja und fordert sie auf, ihn zu begleiten: »Komm, ich bin gerade beim Essen, wir können in der Küche weitersprechen … aber sag mir, wie bist du hereingekommen? Ich selbst habe die Eingangstür verschlossen.«
»Ja genau, jetzt wo du es erwähnst … Zuerst war sie wirklich versperrt; als sie sich nicht öffnen ließ, habe ich ein weiters Mal geläutet – dann sprang sie einfach auf, ganz so, als hätte jemand nachgeholfen.«
Pepe versteht es zwar immer noch nicht, doch die Tatsache, dass Acamis wie ausgestorben sein soll, macht ihn neugierig: »Menschenleer … niemand in der Stadt – keine Seele?«
»Ja, wenn ich es dir sage: niemand! Ich war drüben am Zweiten Platz, um Brot zu holen, dann ging ich zu Philip, dem Käser …«
»Tanja, komm zur Sache!«, warf Pepe ungeduldig ein.
»Jaja … lass dir erzählen … Ich beobachtete eine Gruppe von Kindern, begleitet von einer weißhaarigen Frau. Sie spazierten durch das Glasloch zum Dritten Platz hinüber. Diese Frau erzählte recht lautstark, wobei mir ein Wort besonders aufgefallen ist: Pilzmutterbäume. Ich schaute noch mal zu ihnen hin und musste schmunzeln – du weißt ja, ihre Körper zogen sich in der Spiegelung des Glaslochbogens auseinander –, dann ging ich zum Käser ins Geschäft hinein … nach vielleicht fünf Minuten war der Einkauf erledigt und ich schlenderte ebenfalls durch das Glasloch. Ich hörte das übliche Treiben, Stimmen und alle möglichen sonstigen Geräusche. Als ich jedoch den Dritten Platz überquerte, bemerkte ich, dass niemand da war – wie ausgestorben … ich war sozusagen mit einem Male ganz alleine auf dem Platz … na und dann lief ich zu dir. Lustigerweise hatte ich keine Angst, ich war eher durcheinander … und …«
Pepe hebt abrupt seine Hand. »Warte, Tanja, ich habe genug gehört!« Dank des bescheidenen Brötchens hat Pepe seinen Kohldampf halbwegs gestillt und kann wieder klar denken. »Weißt du, was ich vermute?«, schmunzelt er. »Jemand hat sich da einen Scherz mit dir erlaubt.« Dabei lugt er verstohlen aus dem Fenster, um nachzusehen, ob der Vierte Platz tatsächlich menschenleer war. Kichernd winkt er Tanja zu sich: »Äh, also ich finde, du solltest dringend einen Arzt aufsuchen oder noch besser einen Geistheiler!«
»Was? Wie … lass mich schauen …«
Zu ihrer Verblüffung sind die Lauschhütten bis zum letzten Platz besetzt. Jacques steht neben einer weißhaarigen Dame auf der Bühne und fuchtelt aufgeregt mit den Händen herum.
Verwirrt ruft Tanja: »Das gibt es doch nicht, was geht hier vor sich? Ich meine, du glaubst mir doch, oder Pepe …?«
»Ja, ich glaube dir. Wie gesagt, vielleicht handelt es sich tatsächlich um eine Art Scherz, mit dem Zweck, dir ein Trugbild vorzugaukeln.«
Pepe wird durch ein herzliches Lachen unterbrochen: »Unserem Schreiberling kann man nur schwer etwas vormachen«, hören beide die unverkennbare Stimme Purtzls.
»Das glaube ich jetzt nicht!«, ruft Tanja sauer. »Das würdest du nie machen, nicht wahr, Purtzl? Oder doch?«, fragt sie, mit erhobener Stimme im Raum herumblickend, um Purtzl vielleicht irgendwo auszumachen.
Pepe lacht bereits schallend und erklärt spöttisch und besänftigend zugleich: »Doch, doch, unser so oft unsichtbarer Freund macht so etwas schon – was aber meist ein Ereignis, eine Geschichte oder auch beides zur Folge hat.«
In diesem Moment wachsen aus dem buntscheckigen Vorhang zuerst zwei Augen, dann ein Mund und schließlich das ganze Purtzl-Wölkchen heraus: »Was sagt ihr zu meinem Versteck? Prima, was? Und der Trick, dich Tanja, ohne dass du es bemerkt hättest, in ein Luftwesen zu hüllen, das dir ein Bild vortäuscht, ist doch wirklich lustig – das funktioniert in dieser Form nur am Glasloch«, kichert er weiter.
»Äh, Purtzl, hast du mich jetzt so richtig veräppelt? Das wäre eine Seite an dir, die ich noch nicht kenne. Und auch nicht mag«, entgegnet Tanja, nach wie vor eingeschnappt.
»Du wirst es nicht glauben, Tanja, aber mir ist es ebenso ergangen!«, erwidert Purtzl. »Täuschung und Tarnung – ich war in einem riesigen, also wirklich unglaublich großen Dschungelurwald, so groß, dass ich fast auf den Mond fliegen musste, um ihn zu überblicken. Ein weitverzweigter Fluss ist sein Vater, ein Fluss, wie ich keinen zweiten kenne. Er quert fast einen ganzen Kontinent, bevor seine Wassermassen sich ins Meer ergießen. Und tausendfaches Leben umgibt ihn … Ja, und ein sehr besonders rosarotes Wasserwesen lebt in ihm. Jedoch ist da auch etwas sehr Trauriges dabei: Dumme, wirklich unglaublich dumme, böse Menschen, zerstören ihn, den Riesendschungelurwald!« Einige Regentropfentränen kollern Purtzl über die Wolkenwangen.
Da geht die Küchentür auf und Jacques kommt herein. Er schaut sie forschend an und sagt nervös: »Ah, da seid ihr ja. Kommt doch gleich alle mit hinunter … Heute sind so viele gekommen, dass die Wiese bis zum Waldrand mit Kindermenschen besetzt ist. Ich habe sogar den Megatrichterverstärker einschalten müssen.«
Dann verschwindet er schon wieder und Purtzl schwebt ihm ohne ein weiteres Wort nach.
Auch Pepe läuft zur Küchentür hinaus und bedeutet Tanja mitzukommen: »Warte beim Stehpult auf mich, ich bin gleich wieder bei dir.« Dann eilt er durch den Denksalon in die Bibliothek und verschwindet in einem der hinteren Gänge.
Tanja folgt ihm, wie aufgetragen, nur bis zum Stehpult im Denksalon. Von dort sieht sie gerade noch den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die hohe Decke der Bibliothek wandern. Es geistern ihr wieder die rätselhaften Vorkommnisse der letzten halben Stunde durch den Kopf: Sonderbar … was ist denn da los? Diese seltsamen Spiele Purtzls … Jacques hat auch ungewöhnlich ernst dreingeschaut … und dann das menschenleere Acamis durch die Täuschungen Purtzls – und jetzt sind auf einmal derartig viele Kindermenschen gekommen … Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns aufregende Tage bevorstehen.
Pepe ist inzwischen zurückgekehrt und legt Tanja einen einzigen Denkzettel vor die Nase, besser gesagt: auf die schräge Ablage des Stehpults. »Schau dir das an. Weißt du, was diese Zeichnung darstellen soll?«
Verdattert rät Tanja herum: »Einen Baum, zumindest sieht dieses Gewächs einem Baum … nein warte, oder vielleicht doch einem Pilz ähnlich …«
»Beides, diese Zeichnung stellt beides dar.«
»Ach ja, richtig«, bestätigt Tanja, »das ist ein Pilzmutterbaum, oder? Und was hat das mit den Spielchen von Purtzl zu tun?«
Pepe zwinkert ihr nur zu und zieht sie mit sich, denn wie er richtig vermutet, wird Tanja das aus der heutigen Geschichte erfahren. Die beiden hasten zu den andern auf den Vierten Platz hinunter, wo Jacques, die weißhaarige Dame und Purtzl gerade miteinander tuscheln.
Als Pepe und Tanja aus der Tür treten, winkt Jacques sie sogleich zu sich und erklärt: »Wir erzählen heute eine Geschichte von großer Bedeutung – wichtig für Thahotoma und auch für die Erde!«
»Hängt das vielleicht mit dem hier zusammen?«, murmelt Pepe heimlichtuerisch, indem er ihnen die Zeichnung mit dem Pilzmutterbaum vor die Nase hält.
»Ja, Peponcho … wo hast du die her?«
Pepe geht noch näher an Jacques‘ Ohr und flüstert: »Ich fand sie vor ein paar Tagen ganz hinten in der Bibliothek, neben der niederen Holztür … du weißt schon, von der ich immer noch keinen Schlüssel bekommen habe.«
Etwas vor den Kopf gestoßen räuspert sich Jacques und fährt, ohne auf das Gesagte näher einzugehen, fort: »Ja richtig, Junge, es geht um Mutterbäume im Allgemeinen und auch um unsere Pilzmutterbäume – du hast ja schon davon gehört … ich meine diese neuen Schleimpilze, die alles unter sich zu ersticken drohen.« Er wendet sich wieder allen Umstehenden zu: »Und ihr wisst auch, wie wichtig die Pilzbäume für Thahotoma sind. Ähnlich verhält es sich unten auf der Erde mit den großen alten Bäumen. Würden sie verschwinden, hätte das unvorstellbar schreckliche Folgen. Aber seit Tausenden von Jahren lebt ein altes Volk verborgen in diesem größten Urwalddschungel der Welt … nur wenige wissen von diesen Menschen. Sie können sich gleichsam verhüllen. Sogar Purtzl konnte sie, als er ihnen das erste Mal begegnete, nicht sehen.« Jacques macht große Glupschaugen und zischt geheimnisvoll weiter: »Unglaublich, aber wahr, sie waren für ihn unsichtbar, und das, obwohl er sie spürte!«
»Jetzt verstehe ich das Spielchen von dir schon ein wenig besser«, flüstert Tanja erleichtert zu Purtzl.
Dieser spricht nun mit leiser Stimme und bei genauem Hinhören ist zu erkennen, was für eine unbändige Kraft in ihm steckt – wie tief Purtzl als Seelenwesen mit allen Dingen verbunden ist: »Ja, und dieses Urvolk lebt mit den Geistern der Bäume, den Blumen und dem Wasser –sie sind wie Nana, Dhudusi oder Alisa, auch sie hören die Stimmen der Natur. Sie werden von mir auch das unsichtbare Gutgeistervolk genannt.« Purtzl blinzelt Tanja und Pepe an, wendet sich der weißhaarigen Dame zu und spricht Unverständliches mit ihr.
Jacques hingegen zieht die beiden zu sich und erklärt mit ernster Miene: »Als unser Purtzl den verschiedenen Lebewesen des Dschungels begegnete, berichteten sie alle von einem Ereignis, das unmittelbar bevorstehen soll. Sie sprachen vom Beginn einer neuen Zeit. Sie haben die Zeichen in Bäumen, Luft und Wasser gesehen. Auch die Medizinmänner, die Zauberer dieses im Verborgenen lebenden Volkes, prophezeiten einen großen Wandel im Urwalddschungel … einen Wandel, dessen zerstörerische Kraft unaufhaltsam fortschreitet. Aber wahrscheinlich ist es schon zu spät! Dieser Medizinmann sprach davon, dass wir eine Welt sind … Auch ein tausend Jahre alter Baum vertraute sich Purtzl an, ja, dieser Urwaldkoloss kannte sogar Purtzls ersten Namen: SEA. In seiner Baumsprache erklärte er ihm: Ein Band, bestehend aus Gefühlen und Gedanken, getragen von großem Wissen, verbindet alles Leben unserer Mutter Erde. Doch gibt es ein Etwas, das dieses Band zu zerreißen sucht. Wir müssen die Blindheit abwerfen, die dieses Etwas auf uns legt und immer wieder legt, so lange, bis wir alle ausgelöscht sind. Und das Geheimnis, von dem das verborgene Volk spricht, werdet ihr schon bald in dieser Geschichte hören!«
Jacques reibt sich aufgeregt die Hände und blinzelt mit den Augen. Für ihn gibt es kaum ein größeres Vergnügen als die Überraschungen in seinen Abenteuergeschichten. »Sie sind die große Würze und machen munter!«, sagt er bei so mancher Gelegenheit.
Unterdessen bemerken Pepe und Tanja, dass es mucksmäuschenstill geworden ist. Nicht einmal Jacques hat den sogenannten Wichtigkeitstrick Purtzls bemerkt, denn dieser hat den Megaverstärkertrichter mit einem Luftwesen verhüllt und lässt ihn vor Jacques‘ Mund schweben. – Alle können seine Stimme hören, die durch die Kurze Gasse hinaus über die Felder bis hin zum Waldrand hallt.
Jacques setzt, als er den Kniff Purtzls erkennt, sein Schmunzelgesicht auf und spricht weiter: »Nun gut, unser Freund Purtzl wünscht sich also, dass alle bis in den letzten Winkel von Acamis dieses Gespräch mithören … wieso auch nicht? Purtzl wurden, wie manche von euch ja schon wissen, viele Namen gegeben. Aber fast nur die alten Kindermenschen wissen von seinem erstem Namen SEA, den er bekommen hat, als Thahotoma entstand!«
Dann klopft er, so wie er das meistens macht, mit seinem Wurzelstockgriff auf den Bühnenboden … Ein leichtes Beben zieht sich über den Vierten Platz bis hinaus auf die Felder und legt diesen besonderen Geschichtenerzählzauber auf das Volk der Kindermenschen …
Pepe fällt noch auf, dass sich die weißhaarige Dame, von der auch Tanja erzählt hat, ganz unauffällig neben die Bühne stellt und dabei Jacques zuzwinkert.
Pepe tut so, als hätte er ihre Geste nicht gesehen, setzt sich an den Rand der Bühne – seinen Stift gezückt und seinen Notizblock auf dem Schoß. Nun ist er schreibbereit! Er sieht aber nicht, dass auch er beobachtet wird: Fast verstohlen wirken die Blicke der Weißhaarigen, die sich inzwischen ganz hinter das Podium begeben hat.
Und nun beginnt Jacques zu erzählen:

Das verborgene Volk

Mary und Toni

»He Mary, schau dir das an!«, rief Toni zu seiner Schwester.
Sichtlich beeindruckt war sie stehen geblieben, um den neu gewonnenen Ausblick über Grünflussbruckstadt zu bestaunen. »Komme gleich!«, antwortete sie ebenso lautstark. »Jetzt wo die Bäume weg sind, sieht man viel besser in die Stadt hinunter!«
»Das kann schon sein, aber guck dir das an: Mensch, das ist doch eine echte Sauerei, die … die haben den alten Fichtenbaum gefällt. Unser geliebter Dicker ist weg!«, geriet Toni völlig außer sich.
Bestürzt lief Mary zu ihm. Sie blieb beim Baumstumpf stehen und schaute nach oben, so als wollte sie nachsehen, ob der Baum nicht doch noch da wäre: »Das kann nicht sein – einfach abgeholzt!«
Beide stellten sich auf die große Schnittfläche des ehemaligen Riesen. An mehreren Stellen quoll noch Harz hervor, dessen Duft die Luft erfüllte. Toni schüttelte ungläubig den Kopf, bückte sich und begann von der Mitte aus die Ringe zu zählen. Mary tat es ihm gleich, allerdings von außen nach innen.
Als sie fertig waren und die beiden Zahlen addiert hatten, riefen sie wie aus einem Munde: »Hundertsiebenundvierzig Jahre!«
Marys Mundwinkel waren nach unten gezogen, als sie aufgebracht sagte: »Das ist eine totale Schweinerei! Die hätten doch wenigsten ihn stehen lassen können. Schau nur, das sieht aus, als würde er weinen!« Dabei deutete sie auf die unzähligen Harztröpfchen.
Toni blickte mit finsterer Miene zum Baumstumpf, als er plötzlich im Nacken eine Berührung spürte, als hätte ihn eine Spinnwebe gestreift. Erschrocken zuckte er zusammen und rieb sich dabei über den Hinterkopf. Dermaßen wütend, vergaß er jedoch die seltsame Berührung für den Augenblick wieder, und schimpfte lautstark durch den Wald: »Diese blöden Baumabschneider, die sind echt das Letzte. Nicht einmal vor einem so alten Baum haben sie Respekt, nur die Natur ausbeuten, ja, das können sie!«
Toni war ja sonst der mit den coolen Sprüchen, wohingegen Mary eher die Nachdenkliche war. Es ist das Los der größeren Schwester, einer muss ja aufpassen, sagte sie sich hin und wieder selbst. So auch in diesem Augenblick. Mary nahm ihren Bruder an der Hand, lächelte und erzählte ihm möglichst gelassen: »Vor ein paar Tagen war ich mit drei Schulfreundinnen hier. Wir vier konnten die Fichte nur mit ausgestreckten Armen umschließen, so dick war ihr Stamm. Wir waren ganz aus dem Häuschen. Und weißt du was, Toni? Genauso groß behalten wir ihn in Erinnerung.«
Toni lächelte gezwungen: »Okay, in guter Erinnerung?«
»Ja, stimmt, in guter Erinnerung!«
Sie schlenderten wortlos hinüber zum Waldspielplatz. Der zerstreute Lichtkegel eines Sonnenstrahles, durchflochten vom aufsteigenden Nebel, ließ die Lichtung besonders magisch erscheinen. Sie setzten sich auf die Wippe und schaukelten auf und ab. Das Pfeifen des Windes vermischte sich mit den verschiedensten Vogelstimmen, die das Erwachen des Frühlings ankündigten.
»Weißt du was, Mary? Ich habe das seltsame Gefühl, etwas tun zu müssen!«
»Meinst du wegen der alten Fichte?«
»Ja, irgendwie hatte ich vorhin so ein merkwürdiges Kribbeln am Rücken. Das mag komisch klingen, aber ich glaubte zuerst, es seien nur Spinnweben.«
»Was möchtest du mir damit sagen? Glaubst du …«,
»Warte, lass es dir erklären: Ich weiß, das klingt blöd, aber wirklich, je genauer ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass mich dort etwas berührt hat. Und zwar genau in dem Augenblick, als du gesagt hast: Schau nur, wie er weint. Ich hatte das Gefühl, als würde mich etwas anhauchen.«
Toni wurde durch ein befremdendes Bläuijäugbing, das sich mehrmals wiederholte, unterbrochen.
»Witzig!«, lachte er und versuchte, den seltsamen Laut nachzuäffen: »Blagböyöyöying …«
Mary, wie üblich die Vorsichtigere, flüsterte mit warnendem Unterton: »Sei leise. Hast du nicht bemerkt, wie gruselig die Stimmung hier gerade geworden ist? Das macht mir Angst – und vielleicht hat dich wirklich ein Etwas gestreift?«
Da wiederholte sich der rätselhafte Ruf und kam dabei immer näher. Die Blicke der Geschwister trafen sich. Wie auf Kommando sprangen sie von der Wippe und rannten in die angrenzende Wiese hinaus.
Als sie aus dem Wald traten, wehte eine Böe über die Blumen und Gräser hinweg. Sie streifte in Wellen durch das Blütenmeer, das sich hob und senkte. Die beiden blieben stehen und blickten sich um. Niemand war zu sehen.
Doch abermals streifte ein Windstoß mit leisem Pfeifen durch das Gras. Die Böe wirbelte um die Bäume und Sträucher am Wiesenrand. Das Pfeifen und Rascheln der Blätter vermischte sich zu einem Säuseln und verwandelte sich zu einer sanften Stimme. Wie ein Echo hallten ihre Worte zu Mary und Toni:

Hört meine Stimme! In weiter Ferne lebt das ehrliche Volk der Urgeborenen, verborgen am großen Wald-Fluss, Bewahrer der Erdenseele … Geht auf Reisen und findet sie!

Verwirrt schauten die beiden einander an.
»Hast du gehört, was ich gehört habe?«, erkundigte sich Mary.
»Ja, das klang so, als käme es von meiner Biolehrerin. Die fährt voll auf Naturgeister ab und irgendwie glaube ich ihr die Geschichten sogar – irgendwie halt, du verstehst.« Toni hielt abrupt inne. Ein bedrückendes Gefühl schnürte ihm plötzlich die Kehle zu.
Auch Mary bemerkte dieses Unbehagen, als würde jeden Moment etwas Entsetzliches aus dem Wald springen. Bang starrten sie zur Waldgrenze, hinter der sich der Kinderspielplatz befand. Es war für die beiden eine ewig lange Sekunde. Dann schossen schlagartig schrille Pfiffe durch die Luft – ohrenbetäubender Lärm – Äste brachen, Bäumen knarrten und ächzten, als stampfte ein Riese, der alles unter sich zermalmte, durch den Wald zu ihnen hinaus.
Toni warf sich sofort flach auf den Boden und zog Mary mit einem Ruck zu sich herunter. »Bück dich«, brummte er sie an, »was immer das ist, es klingt groß, vielleicht will‘s was von uns?«
Mary schaute entgeistert zu ihm. Zittrig erklärte sie: »Weiß nicht, es hört sich auf alle Fälle gefährlich an!«
Toni nickte: »Ja, tut es!« Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten, seinen Kopf ein klein wenig zu heben, um über die Grashalme besser hinauszusehen.
»Bleib in Deckung, jetzt bist du der Unvorsichtige!«, schimpfte nun Mary.
Toni sah noch einen dunklen Schleier, der sich direkt auf sie zu wälzte. Am liebsten hätte er lautstark um Hilfe geschrien.

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Die Geschwister nickten und, obwohl sie noch nicht ganz genau wussten, was SEA wirklich meinte, fühlten sie sich erleichtert, ja sogar eine gewisse Vertrautheit war in ihnen erwacht.
»Ihr werdet bald schon alles besser verstehen; denn wir machen nun eine Reise, also … wenn ihr das wollt.«
Toni jubelte sofort drauflos: »Eine Reise, he, das ist super. Wohin soll‘s denn gehen?«
»Zu den größten Mutterbäumen, die auf dieser Erde wachsen. Der alte Fichtenbaum hat uns zusammengeführt, seine Seele brachte diese Botschaft!«, erklärte SEA geheimnisvoll. Und als hörte noch jemand zu, fuhr er flüsternd fort: »Ihr müsst wissen, dass ich noch andere Rufe vernehme. Wir werden ihnen folgen und die Rätsel klären!«
Doch Mary war sich da noch nicht so sicher: »Die Seele des Fichtenbaumes hat dich zu uns geholt? Verstehe ich nicht. Eine Reise sollen wir machen? Und wer erklärt das unseren Eltern? Also ich könnte mir vorstellen, dass die das auch gerne wissen würden, oder was meinst du, Anton?«
Dieser zuckte mit den Achseln und fügte hinzu: »Wenn sie es wüssten, würden sie es wahrscheinlich verbieten, oder?« Dabei schaute er fragend zu SEA.
Ausgelassen antwortete der Gutgeist: »Mach dir keine Sorgen, wir sind in der freien Zeit von Thahotoma. Einige Stunden hier in den Luftwesen sind auf der Erde gerade mal einige Sekunden. Und ich passe auf, dass ihr heil zurückkehren werdet!«
»Na dann kann es ja losgehen«, bekräftigte Toni sofort, für den schon alle Fragen beantwortet waren.
Auch Mary wurde nun von Abenteuerlust gepackt und hatte ihr Misstrauen hintangestellt: »Gut, aber wenn wir zurück nach Hause möchten, drehen wir sofort um. Versprichst du das?«
»Ja, versprochen. Kindermenschen-Ehrenwort!«
Und da sausten die drei noch höher in die Lüfte. Staunend blickten sie hinunter auf Grünflussbruckstadt. Sie konnten bereits die ausgedehnten Gebirge ihres Landes überblicken. Der schöne Fluss schlängelte sich glitzernd gegen Osten im breiten Grünflusstal. Der Kuppelberg mit seinem Sendemast zog unter ihnen vorbei und sie querten das Südwindtal, durch das sich der Silberfluss über die unzähligen Jahre seinen Weg gegraben hatte. Die riesigen Gletscher schimmerten bläulich in der Vormittagssonne. Spielerisch vom Wind getragen, umspülten Nebelschwaden ihre steinernen Gipfel. Das alles überragende Tribulaunengebirge, an dessen Fuß die türkisfarbenen Seen lagen und dessen Spitzen den tiefblauen Himmel küssten, ließ ihre Herzen noch höher schlagen.
»Wow, wie schön das ist! – Einfach unglaublich!«, meinte Mary.
Toni hatte es tatsächlich die Sprache verschlagen. Er nickte nur und legte seinen Arm um die Schultern seiner Schwester.
Die Landschaft zog unter ihnen vorbei. Sie wandelte sich nun zu Ebenen und sanften Hügeln, auf deren Kuppen alte Dörfer und einzelne Gehöfte standen. So ging ihre Fahrt unter ihren staunenden Augen weiter.
«Schau mal«, rief Mary, »siehst du diese Megastädte mit ihren Fabriken? Das ist ja echt krass! Hast du schon mal so viele und so hohe Kamine gesehen?«
Rauchende Schlote wechselten mit Strommasten und Sendetürmen. Windräder zeigten sich auf Hügeln, unter denen sich Getreidefelder wie überdimensionale Bänder durch die Weiten der Ebenen zogen, bis sie schließlich die Küste des großen Ozeans erreichten.
Toni lag inzwischen frei schwebend im Luftwesen. Er stützte seinen Kopf in den Händen und so, als sei alles ganz normal, erkundigte er sich bei SEA: »Du, wie schnell fliegen unsere Luftis eigentlich? Sind wir schneller als der Schall oder können wir sogar Lichtgeschwindigkeit erreichen?«
SEA lachte und antwortete verspielt: »Es gibt wahrscheinlich keine Geschwindigkeit, die sie nicht erreichen können. Aber seid auf der Hut, denn ihr müsst wissen, dass sie eigenständige Wesen sind, also genau genommen Verwandte von mir. Mit ihnen zu reisen will gelernt sein, da einem die eigenen Gedanken einen Streich spielen können. Die Luftwesen fühlen unsere Gedanken und folgen ihnen. Also Toni, wenn du mit Lichtgeschwindigkeit reisen möchtest, solltest du dir klar sein, dass die Dimensionen sich ändern würden … Du wärst plötzlich in einer andern Zeit! Das Gute dabei ist, sie spüren, ob es wirklich euer Wunsch ist, dass sie von euch Gedachtes ausführen sollen!«
Inzwischen hatten sie den Kontinent hinter sich gelassen. Unter ihnen war nur noch die Weite des Ozeans zu sehen. Die Schaumkronen hoher Wellen blitzten zu ihnen herauf und ließen die Kraft des peitschenden Windes erahnen. Hin und wieder schossen fontänenartige Wassersäulen aus dem Meer in die Höhe. Mary beobachtete, dass sie großen Schatten darunter entsprangen.
Aufgeregt fuchtelte sie mit ihren Händen: »Seht nur dort – das waren doch Flossen … Wale, wir sehen Wale!«, rief sie mit überschwänglicher Freude. »Was haben wir nur für Glück!«


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Augen–Spiegel

Die Matrosen hatten noch viele Male versucht, ihre Schallkanone abzufeuern, jedoch war nicht mehr, als ein leises Pupsen zu hören gewesen. So fuhren sie zurück in ihren weit entfernten Heimathafen und die Meeresbewohner hatten zumindest für eine Weile ihre Ruhe. Und wie so oft in solchen Momenten, konnte sich im Nachhinein niemand der Mannschaft erklären, warum die Schallkanone nicht funktioniert hatte.
Die Gemeinschaft rund um SEA aber hatte sich von einer gigantischen Meeresströmung Richtung Süden mitnehmen lassen. Sie wurde von ihr getragen, was ihre ungewisse Reise im Augenblick leicht und vergnüglich machte. Fortwährend sangen die Wale ihre Lieder und summten Melodien in die Weite der See hinaus.
Neugierig wechselten Tümmler, Wale und manch andere Meeresbewohner sich ab, um die Menschenkinder aus nächster Nähe zu beäugen. Mit SEA war das ein klein wenig anders: Einige von ihnen waren dem seltsamen Wesen, das ihre Sprache sprach, schon begegnet. Und so genoss er auch bei allen anderen schnell großes Vertrauen.
Nach einiger Zeit fingen die großen Blauwale an, ihre Gesänge zu verstärken, indem sie in den allertiefsten Bässen brummten. Sogleich stimmten die Delfine, die Buckel-, Grau- und Pilotwale in die Melodien  mit ein.
Rund um Mary und Toni stiegen Luftbläschen auf.
»Was geht mit denen ab, Mary? Die scheinen sich zu versammeln?«
Mary nickte. »Ja, seltsam, irgendetwas passiert da gerade.«
»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Toni, »unser Freund SEA hat sich auch verwandelt!«
Beide staunten, mussten aber gleichzeitig lachen. Vor ihnen schwamm nämlich SEA als Riesenwal.
»Wenn ich mich nicht irre, sind wir an unserem Reiseziel angekommen. Die Wale haben ihre Gesänge verstärkt. Ich fühle, dass sie jemanden oder etwas rufen.« Damit tauchte der SEA-Wal ab.
»Schau nur, wie witzig das aussieht. Ich glaube, unser Freund ist ein wenig zu groß geraten. Er ist durchsichtig geworden!«
»Ja, stimmt, aber trotzdem sehr elegant, so geschmeidig, wie er sich im Wasser bewegt.«
Genau als Mary das sagte, glitt SEA direkt an ihr vorbei. Er kam näher und näher, zwinkerte ihr zu und war plötzlich ein Delfin. Seine und Marys Blicke trafen sich jäh. Zu ihrem Schrecken hatte sie auch noch das Gefühl, in ihre eigenen Augen zu sehen.
»Bin ich ein Geist?«, rätselte sie verblüfft.
SEA erkannte, dass er ihr von diesem Phänomen erzählen sollte. Und so, als sei es das Normalste auf der Welt, tat er das auch: »Weißt du, Mary, unsere Seelen begegneten sich gerade. Wir betrachten uns nämlich mit anderen Augen, als Menschen das herkömmlicherweise tun. – Verstehst du? Also ich meine das so: Mich gibt es nur, weil du, also deine Seele, mich sehen kann, übrigens so wie alle anderen Kindermenschen auch. Und deshalb könnt ihr, dein Bruder und du, diese Parallelwelt auch betreten … in ihr sein. Und ich bin so etwas wie ein Spiegel, durch den man in diese Dimension der Kindermenschen eintritt. Deshalb spiegeln sich deine Augen manches Mal in meinen wider.«
Toni lachte: »Das würde ja heißen, ich könnte mit deinen Augen sehen, da es ja dann auch die meinen sein würden?«
SEA, nach wie vor in der Gestalt eines Delfins, nickte verspielt, ebenso wie es Tümmler machen. Er knackste und quietschte und sang auch wie sie. Dann schwamm er nahe an Toni heran und sagte fröhlich: »Gut, dann probieren wir das gleich einmal aus! Sieh mich an und folge mir!«


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Wieder zu Hause

Mary guckte verblüfft um sich, hielt kurz inne, nickte zum Abschied und schickte dem Delfin einen Luftkuss. Sie zwinkerte Toni zu und löste sich einfach in Nichts auf.
Toni wollte schon panisch nach Hilfe schreien, jedoch erschien SEA vor ihm; sein Blick versprühte Vertrauen und Tonis Sorge um Mary legte sich sogleich wieder.
»Deine Schwester, wird dich dort erwarten, wo eure Reise begann!« Dann schwieg SEA einige Augenblicke.
Toni fühlte, dass die Zeit angehalten hatte. Seltsamerweise zogen die Erinnerungen der Reise in Bildern an seinem geistigen Auge vorüber.
Im Hintergrund vernahm er SEAs Stimme. Sie klang klarer als sonst und hallte etwas: »Wir haben noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen«, flüsterte er, »bald werden du und Mary mich nach Thahotoma begleiten. Wir werden den Kindermenschen von den Vorkommnissen hier im Urwalddschungel berichten und ihr werdet mir dabei helfen. Möchtest du das, Toni?«
»Ja«, antwortet er, »dich in Thahotoma zu besuchen wäre echt cool!«
»Ja, cool!«, antwortet SEA herzlich lachend.
Gemeinsam blickten sie noch mal hinunter zu Vater Fluss. Toni glaubte, noch sein Blubbern zu vernehmen. Dazwischen drangen unzählige Laute des Dschungels an sein Ohr.
Allmählich verblassten die Bilder und es wurde still um Toni, der seine Augen geschlossen hatte. Wie ein Hauch säuselten die letzten Worte von SEA an Toni vorbei: »Bald schon werdet ihr kommen, ja, sehr bald schon.«

Mary erschrak … rieb sich die Augen … »Wie komme ich auf die Wippe?«
Sie blickte sich etwas ängstlich um. Sie schien alleine zu sein. Die Sonne hatte die Mitte des Tages hinter sich gelassen und während Mary über die Zeit nachdachte, kamen einige Erinnerungen zum Vorschein. »Also«, sinnierte sie, »wir sind kurz vor Mittag hier auf den Spielplatz gekommen …!« Da fiel ihr Toni ein und sie sagte halblaut in Richtung der anderen Seite der Wippe: »Toni, bist du auch da?« Außer dem Vogelgezwitscher und dem Lachen von Kindern, das aus einiger Entfernung zu ihr drang, schien sie jedoch alleine zu sein.
Plötzlich raschelte es im nahen Gestrüpp und sofort waren wieder die Bilder und die damit verbundenen Ängste gegenwärtig: Ratas Negras … sind sie hier?
Es raschelte abermals und da stand Toni neben der Wippe und rieb sich die Augen: »Du, Schwester … ich glaube, wir haben viel zu besprechen!«, sagte er, cool, als sei nichts geschehen.
Mary sagt nichts. Sie war einfach nur glücklich, dass Toni bei ihr war und sie heil zurückkehren konnten.
Toni aber flüsterte ihr ins Ohr, denn jetzt, nach einer derartigen Reise wusste er, dass es nicht nur ihnen freundlich gesinnte Zuhörer gab: »Komm, Mary, lass uns nach Hause gehen … du weißt ja, die Wippe ist eine Pforte und wir wissen nicht, wer uns belauscht!«
Schweigend schlenderten die beiden ein Stück, bis sie an dem Baumstumpf der alten Fichte kamen.
Mary räusperte sich. Irgendwie fiel ihr das Sprechen schwer, so sehr war sie noch von ihrem Abenteuer gebannt. Dann holte sie tief Luft: »Unglaublich, aber wirklich …«
Und Toni starrte auf die Schnittstelle und fügte an: »Ja, einfach irre … wir haben eine parallele Welt betreten … das ist absolut abgefahren. Und du, Seele der Fichte, also wenn du uns hören solltest, du hast uns dieses Abenteuer beschert … danke, das war wirklich Gigantisch!«
Einen Moment hielten beide den Atem an, in der Erwartung, dass irgendetwas passieren würde. Es kam aber keine Antwort und so redete Toni weiter: »Und SEA hat uns eingeladen ihn nach Thahotoma zu begleiten. Das machen wir, oder?«
»Ja, Bruderherz, das machen wir! Und ich weiß jetzt, dass wir mit allem irgendwie in Verbindung sind … äh, und du mich sogar beschützen kannst!«

In Thahotoma

Als Jacques endet, ist es fürs Erste still am Vierten Platz von Acamis. Er steht auf, hebt seinen Stock kurz an und klopft wuchtig auf die Bühne. Wieder ziehen spürbare Erschütterungen durch die Kurze Gasse hinaus, bis hin zum Waldrand.
Als würden alle aus einer Art von Hypnose erwachen, beginnen zuerst nur wenige, dann aber immer mehr auf ganz besondere Art zu applaudieren, doch ist dieser Beifall etwas Besonderes, denn alle Kindermenschen fangen in Gruppen an, verschieden ineinander übergehende Rhythmen zu klatschen … Und eine Mädchenstimme, die nicht genau auszumachen ist, ruft lautstark über den Platz. Langsam formt sich ihr rhythmisches Rufen zu einer Melodie. Mehr und mehr stimmen in den Gesang mit ein.
Nach einigen Minuten klopft Jacques ein weiteres Mal auf den Bühnenboden. Dieses Mal bebt es nicht nur, sondern ein surrender tiefer Ton hallt durch die Gassen. »Hört diesen Ton, Kindermenschen, es könnte sein, dass er euch in nächster Zukunft des Öfteren zu Ohren kommt.«
Die Aufmerksamkeit aller ist schlagartig wieder bei Jacques, der gemeinsam mit SEA und nun auch der weißhaarigen Dame an der Kante der Bühne sitzt. Pepe und Tanja beobachten das Szenario vom großen Balkon des Denksalons aus.
»Jetzt bin ich gespannt!«, flüstert Pepe, »weißt du, was ich glaube? Die Weißhaarige ist eine echte Berühmtheit, mir kommt es vor, als hätte ich schon einmal ein Foto von ihr gesehen … das ist die Kaltuma.«
»Du meinst, eine der Mitfinder von Thahotoma? Aber das ist nicht möglich, da sie längst verstorben sein müsste, oder?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Ich meine … der Ideenmacher sagt von sich, er sei schon viel länger auf der Welt, und der alte Medizinmann soll laut Purtzl- alias SEA auch älter als die von uns gemachte Zeit sein. Nun gut, ich weiß zwar nicht genau, was das heißen soll, älter als die Zeit sein, aber es gibt noch einiges an Forschungsarbeit. Ich bin überzeugt, dass noch einige verborgene Räume und Gänge von der Bibliothek beziehungsweise vom Denksalon aus zu erreichen sind. Und wahrscheinlich auch noch mehr Informationen.«
Da ertönen an mehreren Punkten des Platzes Klingelingglöckchen. Das Geflüster und Gemurmel wird zusehen leiser.
Jacques nimmt sein Supermegaphon und sagt schwungvoll: »Neben mir sitzt eine ganz besondere Mutter, eine, ohne die vielleicht in Thahotoma alles etwas anders aussehen würde! Man kann auch sagen: Mutter Kaltuma ist die Vorhut der alten Kindermenschen!« Jacques macht eine Pause, dabei lässt er langsam seinen Blick über das Publikum schweifen.
Die Spannung, die sich dadurch aufzubauen beginnt, wird fast unerträglich und als sie ihren Höhepunkt erreicht, zeigt Jacques auf ein mittelgroßes Tor, das sich genau an der rechten Ecke am Anfang der Kurzen Gasse befindet. Diese Art Türen gibt es mehrfach in Acamis, wie auch an anderen Orten auf Thahotoma.
»Wie ihr alle wisst kommen einige Besucher Thahotomas über diese Pforte zu uns herauf und auch die Gäste von heute – wurde mir zumindest von SEA so berichtet.«
Viele recken schon ihr Hälse um gleich zu erspähen, wer denn da durch das Tor kommen wird.

Das verborgene Volk

In Grünflussbruckstadt

Einige Tage nach dem Abenteuer mit SEA und den Urgeborenen, es ist später Nachmittag und herrlich schönes Wetter, sitzen Mary und Toni auf der Terrasse ihres Hauses. Sie genießen die klare Sicht auf die Berge, deren Gipfel heute besonders nah erscheinen.
Ohne ihren Blick abzuwenden, beginnt Mary zu sprechen: »Und, Toni? Wie geht es dir? Ich meine, hast du von SEA nochmals geträumt … also irgendwie würde es komisch klingen, wenn ich sagen würde, ob du was von ihm gehört hast, oder?«
»So oder so, ich habe nichts von ihm gehört, obwohl ich, wenn ich ganz ehrlich bin, eigentlich darauf warte. Und du?«
»Wäre es so, hättest du es als Erster erfahren«, dabei lacht sie und ergänzt: »Und sicher niemand anders!«
Während die beiden ausgelassen weiter philosophieren, ob sie mit Freunden auch darüber sprechen könnten und ob die sie für verrückt erklären würden, schiebt sich zu ihrem Erstaunen, sozusagen aus dem Nichts, eine große grau-gelblich schimmernde Wolke über die Stadt.
»Seltsam. Siehst du, was ich sehe? Die Wolke … wo kommt die her?«, sagt Mary und lässt dabei ihren Blick nicht von der ungewöhnlichen Erscheinung am Himmel über ihnen.
»Seltsam ist fast zu wenig … Nicht möglich beziehungsweise Zauberei trifft es besser!«, entgegnet Toni und streift mit seinem Blick über den ansonsten wolkenlosen Himmel.
Des Sonderbaren aber nicht genug, vermittelt das immer unwirklicher werdende Gebilde durch gelblichen Schimmer und den blauen Hintergrund den Eindruck, sich jeden Moment aufzulösen.
Wortlos starren die beiden hinauf und warten ab, ob etwas geschehen wird. Außer dem Geläute eines Windspiels in unbestimmter Entfernung herrscht Stille. Tonis und Marys Blicke treffen sich: »Es geht kein Wind, Schwester, hast du das bemerkt?«
»Ja, hab ich. Und woher kommen dann die Windspielklänge? Vermutest du dasselbe wie ich?«, flüstert Mary nun und schaut um sich, in Erwartung etwas Außergewöhnlichem zu begegnen.
Toni nickt nur, löst aber seinen Blick auch nicht von der Wolke, die jetzt über ihnen steht.
Mary versucht weiter Erklärungen zu finden: »Weiß du was? Ich kann nicht mehr sagen, ob die Wolke klein oder groß ist, ich bin mir nur ziemlich sicher, dass sie etwas mit SEA zu tun hat!«
»Ja, ich mir auch!«, meint Toni knapp.
»Na, wenn ihr beide euch nun einig seid, dann tretet ein und Vorsicht, ihr kommt direkt an der Ecke zur Kurzen Gasse auf den Vierten Platz und dort sind sehr viele Kindermenschen, die euch gleich anstarren werden!«, ertönt die unverwechselbare Stimme SEAs.
»Waaas?«, rufen Toni und Mary zugleich.
Eine Tür knarrt, das Geläute des vermeidlichen Windspieles wird stärker … abermals knarrt eine Türe, ein gelbliches Licht blendet die beiden … Stimmengemurmel wird lauter, Lachen dringt an ihre Ohren …

In Thahotoma

Pepe und Tanja haben so wie die meisten noch nie einen Besucher durch diese Eckpforte kommen sehen. Erwartungsvoll schauen sie vom Balkon hinüber zur kurzen Gasse und fixieren das nun zur Gänze offenstehende Tor.
»Weißt du was? Purtzl hat Mary und Toni geholt!«, zischt Tanja.
»Ja, unglaublich aber wahr … direkt auf den Platz. Da nimm!«, sagt Pepe und reicht Tanja ein Opernglas.
Inzwischen sind alle Kindermenschen aufgestanden und es ist so leise geworden, dass man ein Gespräch zweier Flöhe mit anhören könnte.
Mary tritt als Erste aus dem Schatten der Tür, Toni dicht hinterdrein. Vor ihnen schwebt SEA, beobachtet von Hunderten neugieriger Augen.
Jacques und Kaltuma klettern von der Bühne und gehen den dreien entgegen, dabei hebt Jacques sein Supermegaphon und spricht Mary und Toni, denen das Herz bereits vor Aufregung in die Hose rutscht, vertrauenerweckend an: »Alle hier wissen, wie es euch geht, denn alle hier waren schon in einer derartigen Situation. Ihr seid bei uns herzlich willkommen.«
Kaltuma nimmt Mary und Toni bei der Hand und führt sie zur Bühne. Plötzlich erklingen wieder die rhythmischen Rufe der Frau. Sie steht bei dem Ziegeltorbogen hinüber zum Dritten Platz. Abrupt hält sie inne, holt Luft und gibt dann einen langen gellenden Ton, ähnlich einem Kriegsschrei ab. Das wiederum ist der Auftakt für alle Kindermenschen zu kunstvollen Klatscheinlagen, um ihre neuen Gäste gebührend zu empfangen.

Pepe und Tanja beobachten das Treiben unter ihnen weiterhin aufmerksam, wobei Pepe eine Notiz um die andere macht und Tanja ihrem Talent entsprechend Skizzen zeichnet.
»Was glaubst du, wie ernst ist die Lage?«, versucht Tanja Erklärungen zu finden, »wenn die beiden über keine offizielle Tür zu uns kommen? Du wirst sehen, der alte Medizinmann wird auch nicht lange auf sich warten lassen. Was meinst du, Pepe, sind wir in Gefahr?«
»Das ist wohl schwer zu sagen. Gefahr ist mit Purtzl immer sehr relativ ... jaja, schon verrückt, Tanja, wirklich verrückt … Tatsächlich gab es das noch nie, solange ich hier bin!«
Tanja nickte nachdenklich und lächelte etwas gezwungen, schien aber kein Wort mehr über die Lippen zu bekommen. Sie nickte abermals und senkte den Kopf. Sehr leise sagte sie noch: »Was ist mit dir Pepe? Hast du Angst!?«